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Die Kunst aus dem Haus zu gehen
 

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Inhalt

Der neue Mensch
Die Entdeckung des Venusischen
Eine unglückliche Liebe zur Musik
Wiederholungen
Chinesisch lernen
Wanderungen mit Heinrich
Der verschwendete Tag
Die Sprache der Alpträume
Aus den Akten der Lärmgeplagtheit
Die Perspektive des Nichtautofahrers
Im Dickicht der Plakate
Architektonisches Elend
Anti-Raskolnokow-Gedanken
Das falsche Kostüm
Einsam in zwei Wohnungen
Kalligraphie der Beschwörung
Baden in Seen und Flüssen
Gast und Bedienung
So ein Hut tut uns gut
Weshalb man nicht gern über die besten Augenblicke redet
Der priapeische Garten
Das Buch und ich, allein
Drinnen und draußen
Philosophieren am Wirtshaustisch

 

 
 

ARCHITEKTONISCHES ELEND

Wem die Anblicke außerhalb der eigenen vier Wände etwas bedeuten, der muß verzweifeln angesichts der Gegenwartsarchitektur. Sie scheint die Verhäßlichung der Welt ganz allein vollbringen zu wollen. Dadurch daß sie da ist, ist sie zum Stil der Zeit geworden, wiewohl in Wahrheit bloß Vorwand und Hülle für technische Installationen und im übrigen Ressentiment gegen alle Stile. Über die Schrecken solchen Bauens ist viel Witziges und Entrüstetes geschrieben worden, beispielsweise From Bauhaus to our House von Tom Wolfe oder der rührende Bildband von Prinz Charles. Kein kritisches Wort hat geholfen, die Architekten haben sich, durch Widerspruch gestärkt, eines Schlechteren besonnen. International style: Jahr für Jahr endlose Wiederholungen des gleichen Kastens, nur noch etwas armseliger (seine nächsten Verwandten: Aktenschrank und Heizkörper, die ihrerseits auch schöner sein könnten). Je geheimnisloser der Kasten, desto mystischer die Erklärung, die ihm vom Erschaffer beigeben wird. Erklärung ist alles! Vor allem müßte endlich erklärt werden, warum der erklärungsbedürftige Kasten immer wieder von neuem entsteht. Massenweise, überall. Ich habe einmal im Stuttgarter Hinterland gewohnt und von dort aus die Gegenden durchstreift, die wir von vornherein kennen, wenn wir Hölderlins Gedichte gelesen haben. Das Schlimmste ist: es gibt noch Reste davon, unauffällige Winkel sind verschont worden und erinnern an das, was einmal war. Schon ein blühender Obstbaum kann tausenderlei Vergangenheit heraufrufen. Er hat sich gehalten in einem riesigen städtischen Einzugsgebiet, das sinnlos kaputtgebaut worden ist. Alle diese Menschen hätte man unterbringen können in Gebäuden, die nicht wie Meteoriten herumstehen und nicht das Landschaftsbild endgültig aufheben. Die Architekten erkennen keine Landschaft an, sie können keine Orte erfinden, keine Ensembles ergänzen. Mit ihren gestanzten Dingern, mit Beton, Glas und Gestänge, drängen sie sich in den alten Bestand, schmeißen sich an die alte Herrlichkeit heran, weil das, was sie machen, vom Kontrast lebt, alleingelassen ist es tot. Die in Wohnbaracken untergebrachten Menschen flüchten um des bißchen Wärme willen in die Altstadt, sofern sie noch da ist. Nur dort wissen sie genau, wo sie sind.
Um das Beispiel einer berühmt schönen Stelle zu nehmen: Wer von oberhalb des Philosophenwegs über Heidelberg dem sich schlängelnden Neckar nach ins Land schaut, hat ein Bilderbuchexempel dieses unguten Nebeneinanders und Durcheinanders vor sich. Er erkennt, wie es einmal gemeint war, und wenn er es nicht erkennt, kann er es im Schloß oder im Museum auf den Stichen und Gemälden des 19. Jahrhunderts sehen. Vorne liegt die Stadt ins Tal geschmiegt und wo früher die Landschaft ins Unendliche fortrollte, erstreckt sich jetzt ein Niemandsland zusammengewürfelter Kuben, krönender Abschluß: Riesenschornsteine am Horizont. Ich nehme nicht Anstoß an der Menge des Gebauten. Kann sein, daß all dieser ummauerte Raum gebraucht wird. Es wäre möglich gewesen, genauso viel zu bauen und die Stadt organisch um Nebenzentren herum zu erweitern, ohne die Landschaft zu töten. Daß es nicht so ist, liegt an der Architektur, die wuchert und entwertet.
Selbst die Frankfurter Banktürme, diese wie direkt aus Geldscheinen errichteteten Dinger, leben von den früheren Bauten, die sie übriggelassen haben. Wären die nicht mehr da, wären auch die Banktürme nicht mehr da, sondern nur noch Fata Morgana. Die Commerzbank braucht das Goethedenkmal davor, die Deutsche Bank die Alte Oper, ohne das würden sie in nichts zerfallen. Frankfurt macht sich sehr bemerkbar, von sehr weit, doch gerade das zeigt die Windigkeit, nämlich des Windes, der durch sie hindurchgeht, die Stadt, und dann als einziges übrigbleibt. Die Heidelberger sollen sich um Heidelberg kümmern, die Frankfurter um Frankfurt, ich habe versucht, mich ein wenig um meine Stadt zu kümmern, nämlich Wiesbaden, außer bissigem Streit ist nicht schrecklich viel dabei herausgekommen, eigentlich auch nicht genug Streit. Der Rhythmus von Bauen und Abreißen ist immer lebhafter geworden. Wir haben in Wiesbaden eine überdimensionierte Post, die ist  kaum über zwanzig Jahre alt, wurde bei der Einweihung als städtebauliche Bereicherung gefeiert und soll jetzt ich nehme an samt der Metallskulptur Phönix wieder verschwinden. So ereilt es auch andere Monumentalbauten. Damals haben wir vergeblich gegen die Errichtung protestiert und jetzt finden wir die Architekten höchst einverstanden mit der Demontage, denn  so könne sie wiederum etwas Großes und Häßliches bauen. Einwände erheben nur Steuerzahler, die sich über die Verschwendung von Geldern ärgern. Rückwärts haben die Architekten es leicht mit der Selbstkritik. Was sie uns vorgestern als revolutionäre Errungenschaft priesen, das verwerfen sie heute mit einer Selbstverständlichkeit, um uns das gleiche in geringfügig anderer Ausführung wieder als Errungenschaft zu preisen. Staccato von Bauen und Abreißen. Die Sachen können nicht nur nicht schön altern, sie dürfen auch nicht altwerden. Darin läge der Trost, daß alles, was so stört, in Bälde wieder verschwindet, sofern nur genug Halden für Bauschutt da sind. Doch weil die unendliche Wiederholung des Gleichen gewollt wird, ist es kein Trost. Die rastlosen Kräne marschieren auf und überraschendes Ergebnis: wieder ein Heizkörper oder ein Aktenschrank. So macht man aus einem Ort einen Nichtort. Ich war immer der Meinung, daß man überlebt werden muß von seiner Stadt.
Meine Debatten mit den Architekten waren fruchtlos, weil die sich von einem Literaten nichts sagen lassen. Ich schrieb Bücher und Aufsätze aus Zorn über die Verschandelungen, das touchierte sie nicht im mindesten; je mehr Worte ich machte, desto deutlicher wurde es, daß man so keinen Einfluß aufs Geschehen nehmen kann. Ich hatte keine richtige Lust, tatenlos mitanzusehen, wie meine Stadt Stück für Stück ruiniert wird. In den sechziger Jahren wollten sie, um ihre Standardkästen hinzusetzen, ganze Stadtviertel aus dem letzten Jahrhundert niederlegen, mit zentrumsnahen, prächtigen Villen. Wir inszenierten einen Bürgeraufstand, das Parlament beschloß das Gegenteil vom vorigen Beschluß, alles blieb stehen, die Architekten nahmen es hin, denn sie wohnen und haben ihre Büros gern in den alten Häusern, die sie noch lieber abreißen würden, um Häuser zu bauen, in denen sie selbst nie wohnen würden. Falls sie in solchen Fällen mit sich ringen, erfährt das Publikum wenig davon. In den neunziger Jahren gab es wieder einen Eklat. Wiesbaden besitzt etwas ganz Rares: ein freies Gelände in der Mitte der Stadt vor Rathaus und Marktkirche und das wollten sie zukleistern. Wettwerb, herrlicher Entwurf eines Weltstars von Architekten, Begeisterung der Politiker. Die Bevölkerung schrieb Briefe oder litt still. Gute Worte würden nichts erreichen, soviel war deutlich. Also organisierte ich mit Freunden einen Bürgerentscheid gegen das Projekt. Der Gedanke war etwa der: die Architektenschaft entzieht sich der Kritik, die eben nur ihnen selbst, den Fachleuten zusteht. Sie streiten nicht gern mit Außenstehenden, sie bleiben lieber unter sich und bestärken sich gegenseitig in der reinen Lehre, einer der letzten virulenten Ideologien. Nur der Fachmann kann beurteilen, was gut ist in der Architektur, sagen die Architekten. Das heißt, wer baut, ist auch auch allein berufen zu sagen, ob es gut ist. Andererseits muß die Bevölkerung mit den Gebäuden leben, die bei dieser inzüchtigen Verfahrensweise herauskommen, da kann es nicht schaden, einmal deren Geschmacksurteil einzuholen. Bücher und Bilder werden kritisiert und man kann sie wegstellen oder weghängen. Die Werke der Architekten muß man, wenn man sie nicht verhindert, ertragen. Die ineinander verschobenen Schuhkästen, die in diesem Fall die Jury unter ähnlich guten Entwürfen ausgewählt hatte, fanden wir nicht erträglich, also mußten wir sie verhindern.
Es entspann sich ein Kampf um den Platz. Die Stadt ließ für viel Geld ein Modell bauen, mit dem reiste sie durch Stadtteile und Vororte und wir reisten mit. Der Weltstar von Architekten erschien auch und redete mit Zauberworten. Seine Erklärung des Gebäudes, welches leider nur zu klar war, wurde mit großem Interesse angehört. Natürlich sagte er, das Gebäude würde filigran und transparent sein, doch trug er auch viel Rätselvolles vor, und es gab Menschen, die dem vorgeführten Modell nichts abgewinnen konnten, jedoch von den Worten des Architekten sich berücken ließen, eben weil sie sie nicht verstehen konnten.
Er sprach von einer Mischung von Ordnung und Chaos, "das Außen", sagte er, "dient der Mobilität, der jeweilige Anlaß findet im Innern statt. Der Zwischenraum zwischen abgeschlossener Institution und anonymen Außenraum wird neu formuliert. Die Oberflächen werden kein bloßer Klimaschutz oder ästhetisches Mittel sein, sondern sie können aktiv in ihre Umgebung eingreifen." Dieses Eingreifen fanden wir bedrohlich, man konnte sich allerdings auch ein großes schnurrendes Tier von Gebäude denken, das die Herumhastenden ein wenig tätschelt. Der Architekt versprach nicht nur das Tätigwerden des Gebäudes, sondern auch das Umgekehrte, die Vollendung des Gebäudes durch Betrachter und Benutzer. Sie vollenden, was unsichtbar da ist, in sich, hieß es. Diese Aufforderung zum Mitwirken durfte man nicht falsch auslegen, das war eine jenseitige Angelegenheit. Der Architekt wollte nicht, daß die Bevölkerung Wünsche äußerte oder überhaupt etwas sagte, er hielt sie für unzuständig. Er verzauberte sie durch seinen wortreichen Mystizismus, aber wollte seinerseits nichts zu hören bekommen. Er war sehr indigniert, irgendetwas verteidigen zu müssen und daß seine Erklärung nicht sofort jede Kritik zum Schweigen brachte. Die Erklärung, die gewöhnlich an ein Gebäude gehängt wird, ist so wichtig, weil an den Außenwänden wirklich so gut wie nichts zu sehen ist. Aufgeklebte Fenster in trostloser Reihe, unauffällige Eingänge, nach denen man suchen muß, und vielleicht noch ein paar Spinnebeinsäulen. Architekten beschäftigen sich in der Hauptsache mit technischen Fragen. Die müssen einwandfrei gelöst werden, sonst gibts Reklamationen. Das Gebäude ist eine große Maschine, die  funktionieren muß, und  diesem  Gewirr  technischer Einrichtungen eine ästhetische Form zu geben, ist eigentlich eine Zumutung. Man zieht sich durch einen großartigen Einfall aus der Affäre, bringt alles in einem Dreieck unter oder in irgend etwas, was von fern wie eine Muschel oder wie ein Feuerzeug aussieht. Das sind schon weitgehende Zugeständnisse. Der Aktenschrank oder die Eisbox tuts doch meistens. Vielleicht spiegelt sich eine Kirche oder ein Fachwerkhaus in dem Glas, eine feine Ergänzung. Was dann immer noch fehlt, muß eben die Erklärung liefern, oder notfalls die Bauskulptur, die Erdschwere heißt oder Spirale des Seins oder so ähnlich und auch mit Erklärung versehen wird. Erklärung ist ein Baustoff, wichtiger als Naturstein. Die kann der technische Verstand mühelos liefern, während er für ein Gebäude, das dem Betrachter auf Anhieb einleuchtet, eine Baumeister-Vision haben müßte.
Bei unserem umstrittenen Projekt hat die Erklärung nichts geholfen. Der Star-Architekt, seine Innung und die Stadt kämpften tapfer unter Einsatz vieler Steuermittel für ihre Sache, aber am Wahltag bekamen sie nicht einmal zwanzig Prozent der Stimmen. Der Plan war gestorben, der Architekt fluchte über das blöde Volk und die Zeitungen fanden, daß ein schauerlicher Akt des Populismus stattgefunden habe, der sich nicht wiederholen dürfe. Ich wurde als Volksverführer beschimpft. Ich wäre, als Anhänger repräsentativer Demokratie, nicht dafür, daß über jedes Bauvorhaben die Bevölkerung entscheidet, und hab mich ein bißchen für den Aufruhr geschämt. Der Platz ist nicht zugebaut, man sieht noch Rathaus und Marktkirche, das ist etwas wert und hat die Mühe vielleicht gelohnt. Aus Rachsucht haben sie Schreckenslampen und Billigbänke hingestellt, ein Cafe wie der Austellungsraum eines Autohauses und ein eisekalt ungemütliches Verkehrsbüro, das sofort mit einem Preis ausgezeichnet wurde. Nein, sie rasten nicht, ein vorübergehender Baustopp an einer Stelle bringt sie nicht in Verlegenheit. Es gibt andere Plätze, sonstiges freies Land, und Abreißen geht immer. Die Zeit arbeitet für sie, denn die ändert sich, während sie sich nicht ändern. Renommierte Architekten schweifen durch die Welt und sind, wenn die bessere Stunde kommt, in nullkommanix zur Stelle.
Ich halte gehofft, nicht nur etwas zu verhindern. Ein Platz sollte aus dem Nichts, auf einer öden Fläche entstehen, so ein Platz braucht eine Randbebauung, ich hatte Kontakt zu nonkonformistischen Architekten aufgenommen. Das Wichtigste am Platz ist die ihn umgebende Architektur, für das fehlende Stück dachte ich an etwas Ausgefallenes, ich sprach von "ägyptischem Barock", das war der Ausdruck für "bitte ganz anderes als bisher".
Da liegt das Dilemma: Was soll man wollen? Das Alte, sagen die Architekten, lasse sich nicht zurückrufen, das Neue sei in der eigenen Zeit immer verkannt, und was sie machten, sei der Stil der Zeit. Den lehren sie auf ihren Akademien, und passen dabei streng auf, daß niemand durchkommt, der etwas anderes wollen könnte. Ich habe auch mit den Architekturstudenten, in ihrem Hause der uneleganten Betonwulste, gestritten, ich hatte gemeint, die jungen Leute würden schon aus Oppositionsgeist ihren Formenschatz etwas anreichem wollen, aber gegen diese erfolgreiche Erziehung war nicht anzukommen. Wenn einer mit etwas luxuriöseren Vorstellungen auf wunderbare Weise den Abschluß schaffte, würde ihm der Geschäftsausschluß drohen. Die Fachleute sind wirklich sehr unter sich. Bauherren würden sich schon überreden lassen, daß es etwas gemütlicher zugehen sollte, und die Politiker zur Not auch. Sie werden nicht dazu überredet, sie kriegen gesagt, daß es endlos so weitergehen muß und es geht endlos so weiter. Weil es Glaubenstatsachen sind, kann man nicht davon abweichen. Die wenigen Architekturkritiker kommen meist aus derselben Schule und achten auch darauf, daß Ketzerei im Keim erstickt wird. Ein historisierendes Zurück gibt es nicht, da haben sie recht, obwohl es früher nicht wie heute verboten war, sich vom architektonischen Fundus inspirieren zu lassen. Wenn es hart auf hart geht, wollen wir lieber, daß sie nachahmen als daß sie nichts erfinden. Eine Schinkel-lmitation ist immer noch ansehnlicher als eine ganz entschinkelte Einfallslosigkeit, und das Simulationsprogramm des Architekten gibt beides mühelos her.
Was das Neue angeht, das sein muß, aber verkannt ist, so hat diese Bauweise, abgesehen davon, daß ihre Werke meist nach kurzer Frist überaltert und müllig aussehen, auch dadurch eine Obsoletheit, daß sie schon fast ein Jahrhundert gilt, was doch, wenn es denn ein Stil ist, viel für einen Stil ist. Sie ist den kommunistischen Regimes mit Erfolg angeboten worden und war keineswegs in dem Maße das Widerspiel der Architektur im dritten Reich, wie das entsprechende Axiom es will. Maßstablosigkeit, Kälte, Menschenverachtung, die führen zu ähnlichen Bauergebnissen, das Kraft-durch-Freude-Freizeitheim ist der Bauhaus-Siedlung verwandt. Das Gebäude als Maschine, das Menschlein als funktionierendes Maschinenteilchen, das ist Corbusier, das ist auch Speer, das ist 20. Jarhundert, das 21. muß etwas Besseres bringen. Das angebliche Neue lebt nicht von einem Mangel an Anerkennung durch das dumme Publikum, sondern von einem Übermaß an Anerkennung durch die kluge offizielle Welt. Wenn etwas entstünde, was den Vergleich mit dem alten Bestand nicht zu scheuen hätte, wäre ich auch für Abriß und Neubau. Ja endlich etwas Neues, etwas Neues gegenüber dem nun schon viele Jahrzehnte lang immer Neuen und sofort wieder Überholten und im Grunde immer Gleichen. Die Stadt baut sich in Schichten auf, altes Fachwerk, ein bißchen Rokoko, viel Klassizismus und dicke Gründerzeit, Bauten, die etwas wert sind, vertragen sich miteinander wie Stilmöbel. Für Ruskin beginnt der Stil erst mit der Modellierung, mit dem Ornament, das könnte man als Wink von dazumal auffassen. Neu müßte heißen phantasievoller, Ende des dürftigen Gags, der Monotonie und Geheimnislosigkeit. Wir möchten etwas lang nicht Gesehenes, Wohltuendes, Einladendes, bloß nicht aus Sichtbeton, daraus läßt sich beim besten Willen nichts Gescheites machen. Glas eher in Maßen und wenigstens auf dem Niveau des Frankfurter Hauptbahnhofes oder eines x-beliebigen Palmenhauses.
Die reine Lehre hat sich dermaßen tyrannisch festgesetzt, die ganze Sparte ist so vereist, daß auch der Architekt, der den festen Willen hat, auszuscheren, kaum wüßte, wohin er ausscheren soll. Die Architektur war immer eine Art Zusammenfassung der anderen Künste, “gefrorene Musik”, unfigürliche Skupltur, antikisierende Literatur. Von der Seite bekommt sie keine Anregung mehr, lebensvoller zu werden. Wenn der Architekt sich beispielsweise von der Malerei inspirieren lassen wollte, müßte er wohl eine Leinwand, auf der ein schwarzer Fleck ist und ein paar Linien wie in Schulheften, ins Architektonische übersetzen. Das Ergebnis wäre das typische Architektenhaus, ein Würfel mit Quadratfenstern. Das wäre leicht möglich, doch nicht die ersehnte Neuerung. Die Künste, die die Architektur beleben sollten, müßten selbst erst einmal aus ihrer Dürftigkeit erlöst werden. Tom Wolfe erzählt den Fall, daß ein Architekt direkt, d.h. ohne Umweg über Malerei, Musik oder Literatur, durch eine temperamentvolle Frau von seinem angelernten Puritanertum geheilt wurde. Ja, wenn sich mehr temperamentvolle Frauen dieser Aufgabe widmeten! Es wäre fast gleichgültig, wo sie ansetzten. Ein Musiker würde plötzlich Menschenmusik machen und der Architekt würde es hören und Menschenarchitektur machen. Wie es ja manchmal bei Eigenheimen wieder passiert. Wo ein Mensch sich selber Bedeutung zumißt, muß die Architektur es auch tun. Für die kleinen liebenswürdigen Schlenker im Privaten rächt sie sich allerdings sofort blutig im öffentlichen Raum. Mag sein, daß eine Stadt nicht gemütlich sein muß, wiedererkennbar sollte sie sein, sonst weiß ich eines Morgens wenn ich aus dem Fenster schaue, nicht gleich, ob ich zu Hause oder in Minnesota bin.
Wenn die Architektur nicht angeregt wird und nicht einmal angeregt werden möchte, ist es unvermeidlich, daß an den Architekten vorbei gebaut wird. Der Maler, der an der architektonischen Tristesse leidet, entwirft selbst. Das ist dann das hundertwasserische Haus, das mit Recht auf Postkarten abgebildet wird und möglichwerweise dazu da ist, auf Postkarten abgebildet zu sein. Denn in einem Künstlerhaus zu wohnen ist auch nicht ganz leicht. Man unterstützt dadurch die Antibauhaus-Ideologie, die alles krumm anstatt grad haben will. Das Künstlerhaus ist ein Kunstwerk. Wer darin sitzt, muß zwar nicht transparent und funktionsgerecht sein wie der Bewohner des Bauhäusler-Hauses, aber auch ein bißchen Asket, denn der Bewohner des Kunstwerks ist eben Teil des Kunstwerkes und soll schauen, daß er dessen Botschaft nicht durch Überbetonung seiner selbst widerspricht.
Demgegenüber hat das nichtideologische Haus etwas Neutrales, erlaubt in sich die Entfaltung gegensätzlichster lndividualität, es ergänzt nicht die Privatsammlung, sondern den öffentlichen Raum. Das ist gerade die Kunst, auf deren Anwendung man vergeblich wartet: Bauten zu errichten, die dann in ihrer Umgebung, Landschaft oder Stadtlandschaft, als notwendiger Bestandteil erscheinen und nicht wie heruntergesauste Mondwelt und auch nicht wie Reklame für ihren originellen Erfinder. Den meisten Menschen ist es ganz gleichgültig, was da steht. Sie brausen ihrerseits durch die Stadt und haben andere Sorgen. Würde die Stadt ganz furchtbar schön, bildete sie einen noch großeren Kontrast zu dem in ihr enthaltenen Elend. Obwohl man andererseits sehr wohl behaupten kann, daß die armselige Architektur zur Erniedrigung der Menschen beiträgt, die in ihr leben müssen; sie macht sie zu Unberücksichtigten, zu Verbannten. Nicht von ungefähr sammelt sich in den scheußlichsten Neubausiedlungen die Lust, alles kaputt- und totzuschlagen. Der makellose Ort überfordert uns, der organisch gestaltete tut uns wohl, er verlockt auch den, der gar nicht richtig hinschaut. Der Ort des Wohlbefindens ist ein Argument gegen die Weltvermiesung, und insofern kann man die Gegenwartsarchitektur, von Ausnahmen natürlich immer abgesehen, die Handmagd der Weltvermiesung nennen. Sie baut langweilig und zerstörerisch. Sie entzieht sich der Aufgabe, die Welt zu einer Menschenwelt zu machen, oder erfüllt sie auf die Weise, daß der Mensch, der nicht mehr Mensch, sondern Maschine sein will, sich in einer passenden Maschinenwelt wiederfindet. Mag sein, daß darin etwas Unausweichliches liegt. Im Augenblick triumphiert der architektonische Nihilismus. Das Berechnende an ihm könnte allerdings irgendwann das Unberechenbare hervorrufen.
Was habe ich mit den Häusern, frage ich mich selbst. Ich besitze keins, werde nie eins besitzen, ich habe bloß so eine Freude an dem gelungenen Stück. Wenn ich durch die Stadt gehe, wähle ich den Weg möglichst so, daß ich an guten Stücken vorbeikomme. Da läßt sich immer etwas entdecken, eine halbverborgene Nymphenskulptur, eine Balkonidee, ein buntes Spiel mit Materialien. So ein Haus hat ein Eigenleben, eine Geschichte. Es ist menschengerecht gemacht, um den Bewohner zu beschützen, ihn ein bißchen zu erhöhen, durch irgendeinen Dekor zu erfreuen, darin steckt etwas Liebevolles, von der Könnerschaft nicht zu reden. Dazwischen macht sich die lieblos hingesetzte Nullität breit, der Greuel unerbittlicher Theorie. Ich glaube es, wenn ich so herumwandere, mit Schandtaten zu tun haben, mit wahrer Bosheit, der es nicht genügt, weit draußen wo sowieso Texas mit Tankstellen und Werkhallen ist, noch so etwas dazuzustücken, sondern die es gerade auf die besten Stellen im Zentrum abgesehen hat. Die Architektur des Kontrastes will die alten Feinheiten widerlegen, von denen sie, konkurrierte sie ehrlich mit ihnen, immer widerlegt würde. Auf einen Vergleich kann sie sich nicht einlassen, es muß betont werden, daß sie etwas Unvergleichliches ist. Ein einziges Gebäude, das nicht aus der Theorie geschaffen wäre, begabter wäre als das, was sie in immer neuen Auflagen seit Jahrzehnten liefert, würde revolutionär wirken und würde die Lehre gefährden. Es darf nicht sein. Und weil es nicht sein darf, ist es für den, der mißmutig durch die Stadt wandert und sich hier ärgert und sich dort ärgert, so verlockend sich vorstellen, daß an einer Stelle, nur an einer Stelle, wenn die Kräne ihre Arbeit getan haben und das Gerüst fällt, nicht wieder der Heizkörper oder das filigrane Glashaus zum Vorschein kommt und auch nicht eine dekonstruktivistische Wurstelei sondern - ich lasse es offen, was, ich weiß nur, ich würde mich bis zur Raserei freuen.

 

 

 

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